
#1 Radreise und Organisationsentwicklung: Zum Weglassen von Ballast
Endlich Urlaub!
Die Sehnsucht nach Auszeit und Auftanken führte uns dieses Jahr in die nördlichen Wälder zwischen Norwegen und Schweden. Hitze vertragen wir nicht besonders gut, und so lockten unbekannte Landschaften, autofreie Waldpisten und das Versprechen intensiver Naturerlebnisse. Perfekte Voraussetzungen für eine Radreise.
Doch selbst als erfahrene Bikepacker stellen wir uns vor jeder Tour dieselben Fragen: Was darf unbedingt mit? Was muss zurückbleiben? Die Suche nach der perfekten Packliste ist jedes Mal eine neue persönliche und organisatorische Herausforderung. Obwohl das Wetter stabil, sonnig und warm schien, wussten wir, dass sich das in dieser Gegend schnell ändern kann. Und die Route war unbekannt, wir hatten keine Ahnung, wie Wege, Verpflegungsstandorte und Übernachtungsmöglichkeiten aussehen würden. Also packten wir für viele Eventualitäten.
Die Tage auf dem Rad waren fantastisch. Wir genossen die Natur, die Freiheit und die Bewegung. Die Nächte verbrachten wir im Zelt oder unter freiem Himmel. Und was stellten wir am Ende fest? Einige wichtige Ausrüstungsstücke blieben unberührt (wie die Regenhosen und Regenjacken), während andere Dinge fehlten (z.B. das Fernglas zur Beobachtung der scheuen Tierwelt). Notwendiges wie unser Navigationsgerät ging kaputt und Unerwartetes wurde vom Wegesrand eingesammelt, wie eine dicke Kerze gegen Mücken.
Für uns war die Reduzierung auf das Wesentliche eine freudvolle und erholsame Erfahrung. Sich von unnötigem Ballast zu befreien und sich auf das zu konzentrieren, was vorhanden ist. Viele andere Menschen verbringen ihren Urlaub ähnlich: als Auszeit aus der Vielfalt der Themen, Gegenstände und Prioritäten im Alltag. Soweit sind meine Eindrücke wenig überraschend.
Überlastete Organisationen
Das Überlasten von Unternehmen und Teams ist ein bekanntes Phänomen. Das wirtschaftliche Umfeld, die Digitalisierung und Vielfalt an Erwartungen u.v.m. erhöhen den Druck auf Organisationen, mehr zu leisten, während sie gleichzeitig ihre Kosten senken müssen. In diesem Kontext wird es immer wichtiger, Prioritäten zu setzen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
In meiner Arbeit als Organisationsberater erlebe ich mich selbst und meine Kunden immer wieder so, dass Probleme durch ein „Mehr“ gelöst werden sollen: Mehr Software, mehr Personal, mehr Führung, mehr Raum, mehr Prozesse, mehr Mitarbeiterbeteiligung, mehr Budget, mehr Aufmerksamkeit, mehr von diesem Managementkonzept, … Der Gedanke, dass etwas weniger zu tun, zu reduzieren oder ganz wegzulassen, fällt dabei sehr schwer und wird meist energisch ignoriert.
Was macht reduzieren schwer?
Das wirft die Frage auf: Warum reagieren soziale Systeme wie Teams und Organisationen (ähnlich wie Menschen) mit der Tendenz, Probleme durch das Hinzufügen von Elementen zu lösen, anstatt durch das Entfernen von unnötigen? In der Organisationsentwicklung beobachten wir häufig, dass neue Prozesse, Strukturen und Tools eingeführt werden, ohne bestehende mit der gleichen Aufmerksamkeit zu reduzieren oder zu verabschieden (siehe dazu SZ „Denkfalle – Additive Bias“).
Dies führt zu „Prozessfriedhöfen“, Überlastungen von Mitarbeitenden und einer zunehmenden Entfremdung von den eigentlichen Zielen. In der Teams kann der additive Bias dazu führen, dass immer neue Teamregeln und -aktivitäten eingeführt werden, ohne die Kernbedürfnisse und -dynamiken zu berücksichtigen.
Weitere Fragen schließen sich an:
- Gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede beim Weglassen, Reduzieren oder Verabschieden zwischen Menschen und Organisationen?
- Was unterscheidet eine „Optimierung“, die darauf abzielt, vorhandene Prozesse und Strukturen effizienter zu machen von einer „Reduzierung“, die einen Schritt weiter geht und die Existenzberechtigung vieler/aller Organisationselemente in Frage stellt.
- Welche typischen Situationen und Faktoren in Organisation und Team manifestieren den additiven Bias und das Vermeiden von Reduzierung als möglicher Lösungsweg?
- Welche Schlüsse, Konsequenzen und Entscheidungen müssen daraus gezogen werden?
Weglassen – Reduzieren – Verabschieden
Darauf möchte ich mich in dieser Artikelreihe „Weglassen – Reduzieren – Verabschieden“ konzentrieren. Es geht mir darum, eigenes Wissen zu erweitern, mit anderen ins Gespräch zu kommen und Erfahrungen auszutauschen. Denn ich glaube, dass das Weglassen nicht nur auf einer Radreise, sondern auch in der Organisationsentwicklung ein Schlüssel zu mehr Freiheit, Freude und Erfolg sein kann.
Der nächste Artikel beschäftigt sich mit dem Prozess des Weglassens und warum es so schwerfällt. Im Fokus stehen die möglichen Gründe für das Horten, Ausbauen und Ausschmücken in unserer Arbeitswelt. Das Reduzieren und Weglassen als gleichwertige Handlungsoption erfordern Mut und Bereitschaft in Unternehmen, sich von Gewohnheiten, Traditionen und Notwendigem zu lösen.
Was denken Sie?
Schreiben Sie an simen@imtakt.team und geben Sie mir Ihre Einschätzung weiter.
Anmerkungen
1. Mir ist bewusst, dass mein Thema sensibel ist und aus einer persönlichen Luxussituation heraus betrachtet wird. Viele Menschen, Unternehmen und Gesellschaften kämpfen um notwendige Existenzgrundlagen, Frieden und Sicherheit. Ihre Zukunft fokussiert sich auf das schiere Überleben. Aus deren Perspektive kann eine Aufmerksamkeit auf Reduzieren unerträglich und verletzend empfunden werden. Gerne möchte ich mit Fokus auf Unternehmen eine sorgfältige Analyse der komplexen Wechselwirkungen vornehmen und eine selbstkritische Perspektive einnehmen.
2. Auch dieser Artikel könnte weggelassen werden. Die Welt braucht diesen nicht. Vielleicht stiehlt er den Leserinnen kostbare Aufmerksamkeit, ohne Nutzen und Inspiration zu bieten. Mit Sicherheit wäre es besser gewesen, die Zeit für die Planung einer Radreise zu nutzen. Was denken Sie? Schreiben Sie mir gerne unter simen@imtakt.team
Inspirationsquellen:

Dr. Joachim Simen
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